Der Begriff der Phänomenologie als Lehre von den Erscheinungen im Sinne eines unmittelbar oder mittelbar Gegebenen hat in der Philosophie vielfältige Bedeutungen erfahren.

Carl Stumpf führte den Begriff der Phänomenologie als erster in die Wissenschaftstheorie ein (Zur Einteilung der Wissenschaften, 1907). Die Phänomenologie gehört nach Stumpf zu den neutralen Wissenschaften, denen er auch die Eidologie (Lehre von den Gebilden) und die allgemeine Verhältnislehre (als Lehre von den „spezifischen Verhält-nissen zwischen ihren Gegenständen oder den Teilen ihrer Gegenstände“) zuordnet. Was den Terminus ,Gegenstand‘ betrifft, insistierte Stumpf darauf, „den allgemeinsten Begriff des Gegenstandes und den des realen Gegen-standes genau auseinanderzuhalten“ (l. c. 44).

Die drei neutralen Wissenschaften sind die Grundlage aller Wissenschaften, sowohl der Natur- als auch der Geisteswissenschaften, zu Letzteren auch die praktischen Disziplinen (Ethik, Ästhetik, Pädagogik, Rechtslehre, Volkswirtschafttslehre) zählen. Die Phänomenologie dient ihnen als Propädeutik oder Vorwissenschaften. Unter gewissen Kautelen in Bezug auf zu eng und dogmatisch gefasste Erkenntnislehren, die weder den Erscheinungen noch den psychischen Funktionen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, wäre nichts dagegen zu sagen, „daß man die Vorwissenschaften unter dem Namen Erkenntnistheorie zusammenfasse“ (1907: 40). Alles wissenschaftliche Streben mündet (letztlich) in die neutrale Wissenschaft der Metaphysik. Stumpf begreift sie nicht im Sinne „irgendeiner alten Metaphysik [...] sondern einer neuen, und nicht einem a priori konstruierten, mit einem Wurf vollendeten Bau, sondern einer Erfahrungsmetaphysik, wie sie jede Zeit als Abschluß ihres Wissens braucht“ (l. c. 43).

Die Phänomene stehen in Wechselwirkung mit den psychischen Funktionen (siehe Abbild), welche die Gebilde hervorbringen, die ihrerseits wieder durch psychische Funktionen zu Gebilden höherer Ordnung gestaltet werden können. Die Gebilde werden von Stumpf also nicht als unveränderliche Ideen (Plato), überzeitliche, für alle Zeiten Geltung beanspruchende Noemata (Edmund Husserl), Bewohner eines „dritten Reichs“ (Gottlob Frege) oder einer „Welt 3“ (Karl Popper) betrachtet, sondern als stets veränderbare Produkte psychischer Funktionen thematisiert.

Die Zeit stellt im Rahmen phänomenologischer Forschung eines der größten Probleme dar, das in die Dynamik der „Trias“ zu integrieren, Stumpf größte Sorgfalt walten ließ. Weil sich nach Stumpf die psychischen Funktionen immer nur an etwas anderem zeigen, bietet sich gerade die Perzeption der Musik als Zeitkunst an, um an ihr profunde Grundlagen der allgemeinen Erkenntnis zu demonstrieren.

Leib-Seele-Triade

"Es gälte, eine die Natur- und Geisteswissenschaften gleichmäßig durchdringende Ideenwelt zu schaffen, die mit sachlicher Überzeugungskraft die weitesten Kreise des Forscher bezwänge und durch sie die gebildete Menschheit überhaupt mit neuem Lebensblute füllte."
Carl Stumpf, "Die Wiedergeburt der Philosophie", 1907