Perspektiven

Margret Kaiser-el-Safti

Phänomenologie – als Lehre von den Erscheinungen oder dem Erscheinenden – ist ein häufig verwendeter Terminus, der in der Philosophie vor unterschiedlichen Folien inkongruent verwendet wurde und noch wird – je nach dem ob dem Erscheinenden eine Entität, ein Sein, ein ,Ding an sich‘, die Seele, das Bewusstsein, dem oder von dem her es er-scheint, vorangestellt oder zur Seite gestellt wird, oder ob das Phänomen selbst als das Unmittelbare, unvermittelt Gegebene aufgefasst wird.

Das neuere, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommene philosophische Interesse an den Phänomenen beginnt mit Franz Brentano (1838-1917), zu dieser Zeit noch katholischer Priester und bedeutender Aristoteles-Forscher, der 1874 mit seiner „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ auf die positivistische Herausforderung reagierte, den metaphysischen Seelen-begriff abzuschaffen und eine „Psychologie ohne Seele“ auszurufen, weil mit dem Begriff einer immateriellen Seelensubstanz keine wissenschaftliche Psychologie auf empirischer Basis Fuß fassen könnte.

Brentano, durchaus kein Anhänger einer anti-meta-physischen Position, schien sich nach außen hin mit dem Positivismus zu arrangieren, indem er anstelle von ,Seele‘ für „psychische Phänomene“ votierte und diese von den „physischen Phänomenen“ abgrenzte. Als Kriterium der Abgrenzung führte Brentano den Terminus der Intentionalität ein, der dem Mentalen erstmals zu einem positiven, nicht-materiellen empirischen Merkmal verhelfen sollte. Das Interesse an der Begründung einer philosophisch und theologisch verwendbaren Psychologie trat in der wissenschaftlichen Vita Brentanos zuletzt aber wieder hinter metaphysische Fragestellungen zurück. Die von Brentano angestoßene „phänomenologische Bewegung“ ebnete einer neuen Philosophie den Weg, der entgegen der Philosophie des spekulativen Deutschen Idealismus‘ sich dem Ursprung des Mentalen, eines erfahrbar anfänglich Gegebenen, weltanschaulich unvoreingenommen zu nähern suchte.

Die „phänomenologische Bewegung“ entwickelte sich bei Brentanos Schülern Carl Stumpf (1848-1936) und Edmund Husserl (1859-1938) in unterschiedliche Richtungen, sodass divergente Auffassungen, sowohl das Wesen der Phänomene als auch ihre Erfassung und methodische Bearbeitung betreffend, entstanden, die sich wiederum bei den Schülern Stumpfs, den Berliner Gestaltpsychologen und Husserls Schülern, insbesondere bei Martin Heidegger, beträchtlich wandelten.

Dennoch ging der phänomenologische Impuls nicht verloren, die „phänomenologische Bewegung“ weitete sich auf die französische Philosophie aus; schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird Husserl in Frankreich wahr-genommen; noch im Weltkrieg sucht Maurice Merleau-Ponty eine Brücke zu schlagen zwischen amerikanischem Behaviorismus und Gestaltpsychologie. Nach Kriegsende findet die folgenreiche Begegnung zwischen Martin Heidegger und Jean Paul Sartre statt, die eine Vermittlung zwischen Phänomenologie und Existenzphilosophie andeutet. In den letzten Jahren macht der französische Philosoph und Theologe Jean Luc Marion mit einer neuerlichen Belebung der Phänomenologie von sich reden, die ein starkes, wenn auch vorwiegend kritisches Echo bei dem deutschen Philosophen Lorenz Puntel auslöste. Offenbar hat die Phänomenologie trotz Wandlungs-prozessen und Dekonstruktionen als nun europäische Philosophie die Katastrophen der Weltkriege überlebt.

Carl Stumpf ist infolge seines starken Interesses an den akustisch-musikalischen Phänomenen, der Musik-psychologie und Musikwissenschaft, nach Ende des 2. Weltkrieges in Vergessenheit geraten, wird aber in den letzten beiden Jahrzehnten wiederentdeckt. Stumpfs Opus magnum, die „Erkenntnislehre“ (1939-40), wurde 2011 wieder herausgegeben; der kürzlich erschienene Briefwechsel (2014) zwischen Franz Brentano und Carl Stumpf, der die Jahre zwischen 1876 bis 1917 umfasst, wirft ein neues Licht auf diese lebenslange und ereignisreiche, wenngleich krisenhafte Freundschaft. Der Briefwechsel macht aber auch deutlich, warum die Philosophie sich so schwer damit tut, den Phänomenen des Hörens und der Musik die gleiche Bedeutung einzuräumen, die sie seit Jahrtausenden den Phänomenen des Sehens und der Lichtmetaphorik zuwendet.